Von Michael Hüllenkrämer und Franz-Josef Schmitt

Dienstag, 09. Oktober 2018

Im Herzen Berlins besteht das Potential für die modernste Radbahn des Landes

Fahrradstraße der Zukunft - Potential für die modernste Radbahn des Landes

Die Musterstrecke für Rad-Autonomie für Lastenräder von Wheels, Ways & Weights liegt aus guten Gründen inmitten der Hauptstadt

Leise surrende Cargobikes und fast schwebend vorbeiziehende E-Bike-Rider zwischen Glas- und Stahltürmen mit blauen Solarzellen und kühlenden bio-adiabatischen Grünfassaden– wer an die "Eco-City" denkt, hat vielleicht Szenen aus seinem "Science-Fiction" Lieblingsfilm vor Augen, doch sicher nicht den Ernst-Reuter- Platz in Berlin-Charlottenburg.
Vehikel, die überhaupt vollständig ohne fossile Treibstoffe auskommen, befahren den großen Kreis-Kreuzungs-Verkehr vor Gebäuden, die auch eher an gestern als an morgen denken lassen.

Sustainable Accessible Innovations
Dipl.-Geogr. Michael Hüllenkrämer, Mitbegründer des „Sustainable Accessible Innovations“ (SAI-Lab) und einer der Projektleiter im Nachhaltigkeitsprojekt "Wheels, Ways & Weights", sieht hier eine "(Fahrrad-) Straße in die Zukunft" die den Radverkehr remobilisiert:
Vom Ernst-Reuter-Platz, mit der daran anschließenden Straße des 17. Juni, bis zum Brandenburger Tor. Eine Zukunft, die visionärer erscheint, als so manch eine bekannte Zukunfstvision.
Geht es um "Mobilisierung", den gesellschaftlichen Wandel um nachhaltige Mobilität, wird kaum ein Feld so heiß diskutiert wie das freie, umweltfreundliche und emissionsarme Radfahren.
Im SAI-Labor konzentrieren sich die Mobilitätsexperten*innen und Wissenschaftler*innen nicht nur auf den Ausbau der vorhandenen Radwege. Das greift für den Laborleiter Dipl.-Geogr. Michael Hüllenkrämer viel zu kurz.
Im Rahmen des Projekts Wheels, Ways & Weights entsteht im SAI-Lab eine virtuelle Teststrecke für den Fahrradverkehr der Zukunft, die sich in einigen Punkten von anderen Teststrecken unterscheidet. Herr Hüllenkrämer schildert die Gründe dafür: „Die meisten Projekte konzentrieren sich darauf, die Fahrzeuge zu optimieren. Diese Fahrzeuge werden dann auf Teststrecken, unter kontrollierten Bedingungen, getestet – um sich im Anschluss darüber zu wundern, warum die Fahrzeuge unter Realbedingungen des urbanen Verkehrs nicht wie gewünscht genutzt werden.
Die Konsequenz lautet deshalb für Herrn Hüllenkrämer: "Wir müssen die Umgebung, also die Fahrradwege, mit-entwickeln. Und die Fahrzeuge auf veränderten Fahrbahnen unter realen Bedingungen rollen lassen." Daher geht er mit dem Projekt „radKAP“ im SAI-Lab nicht ein paar Schritte weiter, sondern einfach in eine andere Richtung.

Fahrradstraße in die Zukunft - Langfristige Verbesserungen
Um autonom und sicher agieren zu können, muss sich die Fahrerin oder der Fahrer der Situationen, die sich im Verkehr ergeben, bewusst sein, um fahrkünstlerisch angemessen zu reagieren.
Dazu haben die Radfahrerinnen und die Radfahrer die passenden Biosensoren: Den Gleichgewichtssinn für das Radfahren an sich, die Augen zum vorausschauenden Fahren nach Verkehrslage und Beschilderung, die Nase zur Wahrnehmung von Luftbelastungen, die Ohren zum Hören der Verkehrsgeräusche, die Haut zum spüren des Fahrtwindes, und vieles mehr.
Je weniger Informationen diese Sensoren über die "akute" Verkehrslage liefern, die Stress verursacht, umso eher ist die Infrastruktur den Bedürfnissen für Radmobilität angemessen. Je entspannter es sich radeln lässt, desto stärker kann das Unfallrisiko sinken. Wenn die Sensorik der menschlichen Sinne entlastet ist, kann besser und sicherer Fahrrad gefahren werden. Wenn die Radfahrenden entspannt sind, zeigt sich das auch im Ranking für die fahrradfreundliche Stadt.
Wenn jedoch die die vielen Spuren, wie auf der Straße des 17. Juni, alleine den Kraftfahrzeuge reserviert sind und rechts davon dem Fahrradverkehr lediglich ein schmaler Weg auf dem Bürgersteig vorgegeben wird, bedeutet das Stress für die Psyche und viel Arbeit für die "Biosensoren". Dann müssen alle Sinne geschärft sein. Wenn der Radweg dann auch noch über eine unmarkierte Bahn durch einen öffentlichen Parkplatz hindurch geführt wird - wie auf der nördlichen Seite der Straße des 17. Juni, am Campus - drohen weitere Gefahren mit hohem Risiko. Dort helfen dann auch zusätzlich Schilder am Weg nicht wirklich weiter. Neben dem persönlichen Verkehrsverhalten des "besonders vorausschauenden Fahrens" birgt der Streckenabschnitt entlang der Straße des 17. Juni Möglichkeiten zur fahrradfreundlichen (Um-) Gestaltung: "Viele Punkte aus dem Mobilitätsgesetz können hier vor Ort realisiert werden. Dazu gehören breite und sichere Radwege mit einfachem Zugang zu nachhaltig betriebenen Ladestationen für die E-Mobilität, die von unserem Partner SELECT aufgebaut wird bis hin zur Entwicklung mobiler Gebäude mit der das Natural Building Lab betraut ist. Damit kann die Mobilität wirklich nachhaltig werden", sagt F.-J. Schmitt, Leiter der technischen Bausteine im Projekt und wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Die Mobilität als Ganzes soll in Zukunft "nachhaltig" sein, damit keine kurzsichtigen Entscheidungen getroffen werden. Auch wenn das Umfeld mitunter einen anderen Blickwinkel auf die Situation hat.
"Daher sollte die Umgebung - konkret der Campus und dessen Umfeld - so gestaltet sein, das Studierende und Beschäftigte nachhaltige Entscheidungen treffen: Für die Nutzung des Fahrrads - oder andere Formen nachhaltiger Mobilität.
„Dafür braucht es intelligente und praktische Lösungen die wir unterstützen“, erläutert der Physiker. Dieser Blickwinkel ist der Grund, warum in dem Projekt auch die Wege (Ways) für nachhaltige Radmobilität operationalisiert werden und nicht nur das Fahrzeugspektrum mit Lastenräder (Wheels & Weights):
„Wir betrachten die gesamte Strecke vom Ernst-Reuter-Platz bis zum Charlottenburger Tor mit jeweils Zweirichtungswegen für Fußgänger, Radfahrer und Automobilisten. Der Korridor hat Platz für verschiedene Arten von Verkehrswegen und Fahrbahnen, auch für Fahrradbahnen.“
Das klingt nach einer futuristischen Unmöglichkeit. Doch die Vision von „bicophil“ (dem Fahrrad freundlich zugeneigt) soll das leicht Umsetzbare und kurzfristig Machbare ergänzen. So ist „Bidirektionalität“ für die allgemeine Verbesserung der Verkehrssituation im Radverkehr ein etablierter Ansatz zur Neu- und Umgestaltung. Auch der Verzicht auf einige wenige Parkplätze entlang der südlichen Seite der Straße des 17. Juni, entlang vom Erweiterungsbau, sowie dem Haupt- und Chemiegebäude der TU Berlin, könnte Berlins längste Mikrodepot-Zone für emissionsfreie Kleinfahrzeuge entstehen lassen. Eine solche Umgestaltung ließe sich ohne wesentliche Umbauten anlegen; Im Wesentlichen bereits durch Markierungen auf der Straße, örtliche Bordsteinabsenkung und Fahrradparkplätze mit Zugang zu Ladestationen. Die Änderung in der Mobilität selbst wird dann unscheinbarer und leiser erfolgen als ein Schluckauf. Deshalb fällt auch nicht jedem auf, dass der Ernst-Reuter-Platz eigentlich nur unfertig markiert ist.

Fahrrad-Mobilitäts-Metamorphose
Jeder Quadratmeter, der durch Parkplätze gebunden ist, also noch für den ruhenden Verkehr ausgestattet, ist ein Ort, an dem die Metamorphose beginnen kann.
Dahinter steht die Idee einer vielfahrzeugartigen und demokratisierten Mobilität (diversified social mobility). Die Menschen fahren mit dem Fahrrad und rollen auf Flächen im Verkehrsraum, der aus heutiger Perspektive noch nicht für den Verkehr zur Verfügung steht. Als übergeordnete Instanz gibt es dazu die Radverkehrsziele aus dem mobilitätsgesetzlichen Konsens. In der Fahrradszene, ebenso auch im Projektverbund Lastenrad, werden die verschiedenen Ansätze und konkreten Lösungsvorschläge diskutiert und mit anderen internationalen Maßnahmen zur nachhaltigen Entwicklung in der Mobilität verglichen.
Sollte irgendwann einmal die ganze Stadt großzügig mit Radverkehrs-Spuren ausgestattet sein, könnte beispielsweise auch die Ampelschaltung auf der Straße des 17. Juni in beiden Richtungen auf die Grüne-Rad-Welle angepasst werden, wenn beispielsweise gerade große Radhorden auf dem Weg zur Vorlesung heranrollen.
 Darüber hinaus sollen Apps über verfügbare Fahrräder entlang der Strecke Auskunft geben und über den aktuellen Betrieb auf den Radwegen berichten. "Dieses verkehrslenkende Potential kann ein einzelnes Fahrzeug gar nicht haben", sagt Herr Hüllenkrämer. Das sei ein Beweis mehr, dass eine re-konfigurierte Realsituation bereits über geänderte "straßen-markierte" Bedingungen und intelligente digitale Module erreicht werden kann. Daher wurde als Musterstrecke auch für den Test digitaler Neuschöpfungen die Straße des 17. Juni ausgewählt:
Eine offene Straße in urbaner Umgebung.

Realisation und Einfachheit - Fahrradfreundlichkeit
Herr Hüllenkrämer nennt einen weiteren Grund für die urbane Lage: "Die Entwicklung von der automobilen zur klima- und fahrradfreundlichen Stadt ist ein erklärtes Ziel der Landesregierung. Ein Hauptziel auf dem Weg dahin ist es, die Verkehrsteilnehmer*innen mit passenden Infrastrukturen zu versorgen, was eine nachhaltige Entwicklung einleitet".
Skepsis gegenüber Radfahrern auf freien (Lasten-) Rädern, Furcht vor Fehlplanung aufgrund der Farbauswahl beim Fahrbahnbelag oder dem falschen Vertrauen in Änderung der individuellen Autonomität, ohne Rücksicht auf Fahrradmobilität, kann für den Geowissenschaftler nur durch Offenheit und Information begegnet werden.
 Daher gehören zum Projekt auch die "Commons" und der Verbund mit der Zivilgesellschaft: Teil des Verkehrs sind wir Alle, überall.
Die Bürgerinnen und Bürgern soll die Freude am Radfahren vermittelt werden, indem sie bequem, unfallfrei und frei über die Musterstrecke (siehe Fotomontage) fahren und so einen Blick auf die Zukunft der nachhaltigen Fahrradmobilität erhaschen. Schon jetzt können sich im Projekt Wheels, Ways & Weights alle Berlinerinnen und Berliner die Lastenfahrräder der TU Berlin über die Plattform von flotte-berlin.de ausleihen. Die TU Berlin macht Charlottenburg flott.
In einer zweiten Projektrunde könnte die Strecke verlängert werden: Aus dem Westen von der Heerstraße kommend, bis hinein in den Osten am Brandenburger Tor - Beidseits in beiden Richtungen auf Radwegen.

Die Strecke ist übrigens noch aus einem anderen Grund als Testbett ausgewählt worden: Die Straße des 17. Juni gehört zu den Orten, die viele Staatsgäste nach der Ankunft zuerst von Berlin zu sehen bekommen.
So sind nicht nur Berliner*innen, sondern auch der hohe Besuch, eingeladen, nachhaltige Mobilität aus Deutschland kennenzulernen.
Die Zukunft wird nachhaltig, das sollten wir alle progressiv angehen.
Wer Dystopien will, kann weiterhin Science-Fiction-Filme sehen.